Professor Andrea Bedetti
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Einer der verschiedenen Punkte, die alte Musik mit zeitgenössischer Musik verbinden, ist die Tatsache, dass beide Genres den Gebrauch von Musikinstrumenten und menschlicher Stimme in einem unaufhörlichen und gegenseitigen Rollentausch sehen. Dies bedeutet, dass die zeitgenössische Musik, die sozusagen mit dem Post-Webernismus beginnt, die Beziehung zwischen Instrumentalmusik (insbesondere der Blasinstrumente) und Vokalmusik zunehmend als Ausdruck des [künstlerischen] Austauschs (und der gegenseitigen Erforschung / Substitution) betrachtet. Aus vokaler Sicht gesehen finden bevorzugt Streichinstrumente Verwendung, in Verbindung mit der menschlichen Stimme, da das Timbre sehr ähnlich ist. Diese wechselseitige Erforschung / Ersetzung nimmt in einem zeitgenössischen Schlüssel den Kontext der Nachahmung ein. Es sind dies Techniken, die für die Entwicklung von der Antike bis zum Barock zwar grundlegend sind, aber im Vergleich zu unserer Zeit als Elemente der "Transmigration" zwischen Musikinstrumenten und Stimme (bzw. zwischen Stimme und Musikinstrument) aufgefasst werden müssen. Diese Migration hat in einigen Bereichen der zeitgenössischen Musik keinen exquisiten Klangfarbenwert, d.h. sie basiert auf der Tonwiedergabe und darauf, wie [und ob] ein Musikinstrument die Stimme ersetzen kann – oder umgekehrt. Ebenso kann der Wille sein, [einfach] eine Kontinuität in der künstlerischen Botschaft wahrzunehmen und zu manifestieren. Die Botschaft kann auch eine räumliche und zeitliche Erweiterung einer musikalischen Form sein. Oder sie kann einfach Instrumental- und Stimmklang verbinden [oder zusammenfügen] und so mitwirken, an der Realisierung einer wunderlichen, [und/oder künstlerisch gewollten] und demnach herauszuarbeitenden Klang-Störung.
Unter den gegenwärtigen Komponisten, die sehr sensibel für diese Art des musikalischen Schaffens sind, ist sicherlich der deutschen Musiker Hans-Jürgen Gerung hervorzuheben, der seit mehreren Jahren [auf diesem Gebiet] arbeitet und der einerseits das Studium und die Auslotung der Gitarre auf all ihre möglichen Klangaspekte tief erforschte und andererseits aber genau den beschriebenen Übertragungsprozess Musikinstrument / Stimme durch eine Reihe von CD-Produktionen, die die allesamt bei Gerung-Arts & Music veröffentlicht wurden zum zentralen Thema machte.
In diesem Sinne sind die letzten beiden CD-Produktionen von Gerung, gelinde gesagt, beispielhaft: Die erste CD trägt den Titel Gegenüber und enthält drei Kompositionen (Bahubali, Der Wolf von Gubbio und Der Regenmacher) für Sprecher und zwei Celli, während die zweite CD den deutschen Akkordeonisten Valentin Metzger ins Zentrum rückt. Metzger interpretiert ein Triptychon von Liedbearbeitungen unter dem Titel Letzter Frost (hier in der Version für Akkordeon solo - es gibt auch eine Version, die für die Gitarre bestimmt ist).
Die erste Aufnahme basiert auf den Texten der deutschen Religionswissenschaftlerin Melanie Barbato, einer Spezialistin auf dem Gebiet des interreligiösen Dialogs, die drei verschiedene, religiöse Facetten in drei Momenten des Glaubens anspricht. Zunächst die hinduistische Konzeption (Bahubali), dann der christliche Glaube (Der Wolf von Gubbio) und der taoistische Weg (Der Regenmacher). In allen Konzepten wird das Prinzip der Gewaltlosigkeit erhöht. Neben der Studioaufnahme war dieses Werk auch bei der letzten Ausgabe des internationalen festivals forum für neue musik - oberstdorf vertreten, das im März dieses Jahres in der Pfarrkirche St. Johannes Baptist in Oberstdorf (Deutschland) stattfand.
Die Rezitationsstimme von Oliver Mannel wird von den Cellisten Dmitri Dichtiar & Pavel Serbin flankiert, die Barockcelli spielen. Die drei Stücke sind in jeweils sechs Teile unterteilt, die wiederum in je drei Rezitationen und drei Celloduos gespalten sind. So wird der Zuhörer direkter Zeuge beim Entwicklungs- und Transformationsprozess von Text zu Musik.
Der Wechsel zwischen dem Rezitieren der Stimme und der instrumentalen Entwicklung erinnert stark und symbolisch an die typische Ausdruckskraft eines Oratoriums. [Eine Kunstform,] in der ebenfalls spirituelle und künstlerische Energien in gleicher Stärke [und Präsenz] herausgearbeitet werden. Sowohl die menschliche Stimme als auch der instrumentale Klang können dies leisten. Auf diese Weise entsteht eine Art magisches, metaverbales und metaklangliches System, in dem die Dimension des rezitierten Textes einen Wert annimmt, der über das einfache sprachliche Verständnis und die Kommunikation hinausgeht. Es ist, als ob der Hörer in den phonemischen Ausdruck mit einbezogen werden könnte. Aus dem Rhythmus der deutschen Sprache antworten die beiden Barockcelli – und sie verstärken den Klangumfang der menschlichen Stimme nicht nur sondern sie arbeiten mit dem erklärten Ziel, den Umfang des Logos sowie des Wortes, die lexikalische Konstruktion der Geschichte [sogar noch] zu erweitern, ja umzuwandeln.
Der Parabolismus wird wieder zu einem Echo, in dem das Verb weiterhin Musik ist und somit einen Wert verkörpert, der exquisit metatestual ist, der einlullt, friedlich stimmt und beruhigt.
Und das ist die wahre Bedeutung des [Werk-]Titels angesichts der Tatsache, dass der deutsche Begriff Gegenüber als Gegenstück übersetzt werden kann. Das heißt, dass sowohl die Textrezitation als auch die instrumentale Dimension sich unterscheiden, aber gleichzeitig untrennbar sind, zwei Hälften, zwei Teile, die eine einzige und unteilbare Einheit bilden.
Letzter Frost stammt aus dem Jahr 2017 und Gerung kreierte das Werk in zwei unabhängigen Versionen. Eine für den finnischen Gitarristen Patrik Kleemola und die andere für den deutschen Akkordeonisten Valentin Metzger. Beide Fassungen wurden von den beiden Künstlern während der Ausgabe des internationalen festivals forum für neue musik – oberstdorf 2018 vorgestellt. Mit diesem Werk überschreitet der deutsche Komponist die formalen Grenzen einer bestimmten, durch einen Text und eine Partitur festgelegten Vertonung in dem er eine konzeptionelle Partitur erstellt, die dem Interpreten ein großes Investment an Kreativität und Erfindungsgabe abfordert. Dies bedeutet, dass Gerung den Spieler [geradezu] auffordert: ‘sei mehr nachschaffender Künstler und weniger Interpret!‘ – Basis für diesen Schaffensprozess sind drei alte Volkslieder finnischer Tradition: Aamulla varhain, Tule mun ystäväni rantahan und Kun lauttamme puomia heilutteli.
Und wenngleich Notizen der nordischen Volkstradition als Grundlage dienen, so ist es der Interpret selbst, der mit Hilfe [auch] seiner Stimme den Ausdrucksradius seines exekutiven Handelns erweitert. Hier also Klänge, Phoneme, Intonationen, die Valentin Metzger im Verlauf seiner instrumentalen Lektüre mit einem doppelten Ziel verbindet: Einerseits ist die Barriere zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Altem und Zeitgenössischem zu verewigen und [gleichzeitig] aufzuheben. [Er, Valentin,] wird Instrument im Instrument. Mit seiner Stimme, die zu einem Element wird, das mit dem Timbre des Akkordeons interagiert und die dem Kontext der Tradition die Unterbrechung des Jetzt, der "Zeitgenossenschaft" hinzufügt. Es ist die Stimme, die anpasst, was die Tradition übermittelt. Andererseits ist es (genau im Sinne der oben erwähnten Transmutation) die Bereitschaft des Komponisten, zu delegieren, um dem Interpreten die Möglichkeit zu geben, mit seiner eigenen Stimme [und Schaffenskraft] das zu erweitern, was Gerung momentan in der Partitur festgelegt hat. Und damit macht der Komponist Platz – schafft quasi ein unvollendetes Werk! von dem [andererseits] niemals gesagt werden kann, dass es vollendet ist. So wie der Klang, der niemals ein Ende haben kann (egal ob äußerlich oder innerlich). So wie die Natur, die auf diese Weise erhöht wird, nicht enden kann. Drei finnische Volksweisen, die der deutsche Komponist für Gitarre und Akkordeon adaptiert hat und die eine nicht mehr lineare, in Vergangenheit / Gegenwart / Zukunft unterbrochene, sondern eine zyklische Kontinuität entstehen lassen. Ein neuer Zeitbegriff (und parallel dazu ein neuer Klangbegriff) nicht an sich fixiert, sondern immer weiter fließend … undeutlich von den Klangfarben des Musikinstruments zu den Echos der Stimme desselben Interpreten / Komponisten.
In beiden Aufnahmen sind alle beteiligten Künstler Befürworter einer Interpretation, die den künstlerischen Erfordernissen vollkommen entspricht. Valentin Metzger spielt zweifellos den Löwenanteil, da er neben der Rolle des Interpreten auch die Autors erfüllt; es die Rolle des Künstlers, der auch Komponist ist, ohne um seiner selbst willen in die Falle eines extravertierten Verhaltens [oder besser: einer Persönlichkeitsstörung] zu tappen.
Schließlich ist auch die Tonaufnahme beider Aufnahmen gut und gekennzeichnet durch eine mehr als akzeptable Dynamik, die ein [räumliches] Erleben des Klangereignisses ermöglicht (wie es z. B. auf der Bühne wäre). Interpreten und ihre Instrumente können ideal rekonstruiert werden.
Andrea Bedetti
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Hans-Jürgen Gerung – Gegenüber
Oliver Mannel (Rezitation) – Dmitri Dichtiar & Pavel Serbin (Barock Violoncelli)
CD Gerung-Arts&Music
Künstlerische Beurteilung: 4/5
Technische Beurteilung: 4/5
Hans-Jürgen Gerung – Letzter Frost (Version für Akkordeon)
Valentin Metzger (Akkordeon & Stimme)
CD Gerung-Arts&Music
Künstlerische Beurteilung: 5/5
Technische Beurteilung: 4/5