Professor Andrea Bedetti
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Die Figur des Sylvano Bussotti gilt aufgrund ihrer erstaunlichen Vielseitigkeit als eine der faszinierendsten und problematischsten der gesamten Musikgeschichte des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Die Tatsache, neben einem der größten Musiker unserer Zeit, auch Maler, Dichter, Romancier, Theater- und Filmregisseur, Schauspieler, Sänger, Bühnenbildner und Kostümbildner zu sein, stellt sein Werk als titanisches Labyrinth dar, in dem man Gefahr läuft, sich zu verlieren oder besser gesagt schon verloren ist. Diese Tatsache zwingt den Kritiker und jeden, der sich seinen Werken nähert, vor ein Problem der Bewertung und Interpretation, da die sonst gültigen Gesetze der Hermeneutik[1] nicht anwendbar sind. Es ist also nicht riskant zu sagen, dass die Größe des Florentiner Künstlers in einer absoluten Bedeutung seiner Botschaft liegt, die jedoch immer schwer fasslich bleibt. Ein immerwährender Aal also, der allen archivarischen Versuchen, das Erschaffene ab und an zu inventarisieren gleichermaßen entflieht, wie er auch einem [künstlerischen] Prozess der Rekreation entgleitet.
Die musikalische Arbeit von Bussotti konzentriert sich genau auf diese künstlerische Sphäre, wobei darauf geachtet wird, die Türen offen zu halten, um andere Ideen, Konzepte und Vibrationen anderer Sphären zu betreten … und wieder zu verlassen. Genau diese offenen Türen bieten die Fähigkeit, verschiedene lexikalische Instanzen, verschiedene Sprachen, verschiedene, in vielen Formen gesetzte Idiome zu kommunizieren, (ein Vergleich mit der mathematischen Mengenlehre mag hier helfen) um ihr ästhetisches Manifest als einen der wenigen Siege des Menschen gegen den Fluch des Babylonischen Turmes zu betrachten. Und gerade diese besondere Fähigkeit Bussottis, allem Verschiedenen [durch seine Integrationskraft] in derartiger Fülle, gemeinsames Leben und gemeinsamen Körper zu verleihen, lebt weiter in [seinen] Studenten, [Mit]musikern, Bewunderern in jenen molekularen Zellen die man der bussottianische Vision zurechnet.
Hier, als idealer Tribut an Maestro Bussotti, (der in den letzten Tagen seinen siebenundachtzigsten Geburtstag feiern durfte) ein [neues] Album, mit sechs Werken für Gitarre bzw. für Gitarre und Sprechstimme, aufgenommen von dem deutschen Komponisten und Gitarristen Hans-Jürgen Gerung. Zwei der Arbeiten sind von Bussotti selbst, Ermafrodito und Ultima Rara, und die anderen vier entstammen der einzigartigen Vielfalt von Musikern aus dem [ehemaligen] Studenten[kreis] des Florentinischen Meisters, bzw. dem enthusiastischen [Zirkel] seiner Bewunderer. Mit Ausnahme der Komposition Ultima Rara, wurden alle Werke bei den [verschiedenen] Komponisten in Auftrag gegeben vom internationalen festival forum für neue musik – oberstdorf. Das Album beginnt mit der fünfteiligen Suite wanted, für Gitarre (Gitarre, klassische Gitarre, und E-Gitarre) von Luigi Esposito. Esposito darf eher als Mitarbeiter oder enger Freund, denn als Schülers Bussottis gelten. Und, nebenbei bemerkt - Esposito ist auch Autor einer jener Biographien, denen es am ehesten gelang, der Figur Bussotti sehr nahe zu kommen. Espositos Schrift gelang dies, weil er Bussotti (im etymologischen Sinne) selbst zum Zeugen seiner [Lebens]handlungen berief. Danach folgt Declarative Belfry - fünf Variationen für Sologitarre über ein ursprünglich für Viola, Kontrabass und Gitarre geschriebenes Werk der japanischen Pianistin und Komponistin Mai Fukasawa. Mit den sieben Miniaturen Fantasmi nella Foresta – präsentiert Hans-Jürgen Gerung ein eigenes Werk für Gitarre allein und im Cigno Pesarese des japanischen Künstlers Hidehiko Hinohara arbeitet er über eine Partitur die ursprünglich für eine oder mehrere Klarinetten konzipiert war. Die Botschaft, die Gerung [mit] dem Album geben wollten, ist [sogleich] klar im Titel erkennbar – Der Bussotti-Kreis. Es ist der Kreis derer die [sich] erkennen in der bussottianischen Einzigartigkeit. Es ist die Idee der Zirkularität die, von einem Einzelnen gegründet, sich auf Andere/Einzelne bezieht, und die auch auf andere abstrahlt und sie beteiligt. Ein Spiegel also, der Einzigartigkeit und Autonomie garantieren kann. (Es ist ein [Album]Titel, der gleichzeitig auch an einen anderen ganz Großen aus dem Bereich der Poesie erinnert, – nämlich an den deutschen Barden Stefan George und an die strahlende Emanation[2] seines, aus Ministranten, Bewunderern und Nachfolgern bestehenden Kreises in Vision, Ästhetik und Poesie.)
Gerung nahm daher mit voller Kapazität die Form eines musikalischen Gastgebers an, schlug neue Seiten für sein Instrument auf, adaptierte für die Gitarre und sah sich als direkte Emanation der bussottianischen Konzeption. Und er gibt mit anderen [neuen] und verwandelten Klängen die allumfassende Klangidee des Florentiner Meisters an diesen zurück. Das eröffnende Stück des Albums, wanted von Luigi Esposito könnte als strittige "Stilübung" bezeichnet werden – als eine Art "Intavolatura-Blues" (der sofort Erinnerungen an den Sound der Doors von Jim Morrison hervorruft, und damit auch konsequenterweise an die Doors of Perception des Aldous Huxley. Beide hinterließen ja einen unauslöschlichen und [sonderbar] un-andächtigen Eindruck) in dem die drei verschiedenen Klangfarben der Gitarren zum Sinnbild werden für so viele "Ein- und Ausgangstüren". (Bussottis Musik, andererseits - kehren wir [für einen Augenblick] zurück zur Mengenlehre - ist ein ununterbrochener Ablauf von einem Seelen-, Klang-, Rhythmus- und Empfängniszustand zum anderen). Die fünf Variationen von Declarative Belfry transformiert Gerung mit den Saiten [seiner] Gitarre dergestalt in eine akustische Skizze, dass diese mit ihren Klängen das Hören und den Verstand des Zuhörers festhält, - ein sich immer veränderndes Bild hinter einer falschen Trostlosigkeit verbergend. Auf einem ganz anderen Ankerpunkt der bussottianischen Lautpoesie ruhen die Fantasmi della Foresta; - nämlich auf dem Element der Erinnerung an die Kindheit (dies wird später noch in Ultima Rara erkennbar). Konkret sind es Erfahrungen und Erlebnisse des in Deutschland lebenden Gitarristen und Komponisten an einen Wald im Allgäu. Diese Erinnerungen nehmen die Konturen einer Vergangenheit an, die sich weigert, solche zu sein, um die Idee einer Gegenwart im Laufe der Zeit verewigen zu lassen. Erneut findet sich hier die Magie der "Passage", [oder] des "Überquerens", des Öffnens einer Tür, des Schließens einer anderen und umgekehrt. Il Cigno Pesarese ist ein Tribut an die Einzigartigkeit Rossinis. [Quasi] mittels einer Wiederbelebung werden durch Hidehiko Hinohara die theoretischen Positionen barocker Ästhetik aus der Affekten-Lehre transmutiert. Und diese verschiedenen Stimmungen werden in Lautsymbolen konzentriert und vermittelt und je nach Willen des Interpreten ausgeführt. Es [entstehen] Stücke eines Dominos in ständiger Evolution; [wie] eine Klang-DNA, die sich dem Ergebnis eines Würfelwurfes anpasst, der wiederum durch die Sensibilität eben jener Person geprägt ist, die den Klang [auch] selbst ausführt.
Und dann Bussotti selbst. Wenn es ein musikalisches Poster gibt das den Florentinischen Meister als konkretes Bild im Klang eines Instrumentes realisiert und sich biologisch auf eben die Figur des Sylvano Bussotti bezieht, so ist es die Komposition Ermafrodito, in Auftrag gegeben von Hans-Jürgen Gerung selbst. Es ist die Vorstellung einer Pangeschlechtlichkeit, die nicht nur auf die [historische] Bedeutung des Hermaphroditen Bezug nimmt, sondern auch auf den Mythos des Teiresias. Als Geschenk von Zeus wurde diesem die Möglichkeit gegeben, sowohl die Männlichkeit, als auch die Weiblichkeit zu erleben und zu erfahren – wobei dem Teiresias letztlich die Weiblichkeit als das Geschlecht seine Wahl erschien. Auf diese Weise wird die Gitarre aktives und passives Instrument. Sie wird Erzeugerin von Klängen und gleichzeitig Behältnis weiterer Töne (vor der Ausführung jedes der sieben Sätze, rezitiert Gerung jeden Satztitel den er sogleich ausführen wird - und materialisiert auf diese Weise die männliche Komponente, die sich dem Weiblichen, nämlich der Gitarre selbst, anschließt). Ermafrodito ist die Quintessenz der „mystischen Körperlichkeit“. Es ist genau diese Kunst, für die Bussotti einzigartig ist. Es ist die [Voraus]ahnung jenes Zustandes, in dem Sinnlichkeit und Leidenschaft für den Körper die eigene Seele erheben und [die Körperlichkeit] so in ein Motiv der Kreativität verwandeln. Bussotti ist ein Aleister Crowley, der nicht geliebt zu werden benötigt, der aber dennoch weiß, wie man liebt. Er ist derjenige, der physisch seine Kunst schafft, [gerade wie] ein neuer Faun in der Anlehnung an Mallarmé. Wer weiß wie man liebt, der lebt die Kunst in einem Alltag, der in eine stete Abfolge von Momenten aufgeteilt ist. Das sind zeitliche Fragmente an sich, die fähig sind, die von der westlichen Linearität gegebenen Muster zu durchbrechen. Und der Höhepunkt dieses Prozesses ist genau Ultima Rara. Ein wertvolles und unausweichliches Albumblatt, ausgelegt für eine einzelne Gitarre oder drei Gitarren, das (?) den Zyklus von verschiedenen Raras beschließt. (Rara fußt auf einem Akronym für „Romano Amidei Romano Amidei“ - Namen und Nachname eines der wichtigsten Begleiter im Leben Bussottis). Gerung umschließt mühelos mit einem Instrument die kompositorische Linie dreier Gitarren der Partitur und deren üppige Polyphonie. Die Sprechstimmen wurden kreisförmig mit einem Dolby-Surround-Effekt aufgenommen und dann der Gitarrenstimme überlagert. Um diesen Effekt vollständig zu genießen empfehle ich dringend das Werk über Kopfhörer zu hören. Nur wenige bussottianische Kompositionen, haben die Kraft, die präzise und aufregende Ästhetik des Florentiner Künstlers derart mit kontinuierlich wiederkehrenden Gefühls-Clustern zu fesseln [wie Ultima Rara]. Emotionen sind es, die die Schritte der Geschichte, einer Liebe mit Romano Amidei zeitlich materialisiert (die Stimme durchschreitet die Dimensionen von der Polarität des Leidens bis zur Lust), Eine Geschichte, die ein Kunstwerk wird. Es ist eine Fleischlichkeit, die unbestreitbar mystischen Geschmack besitzt und jedes und alles umschließt. Die alles glättet und, quasi als letzte Warnung nur durch die mahnende Stimme unterbrochen wird: „und vergiss das nie!“. Das Werk formt unauslöschlich und grausamen tautologisch[3], leidenschaftlich und sentimental alles, was in Expression ausgedrückt werden kann. [Es ist ein] „nicht mit dir, nicht ohne dich!“ - (dies zieht sich [übrigens] durch die gesamte Kunst von Bussotti, durch all seine Werke. Sein ständiger und erhebender Fortschritt war stets getrieben durch ein starkes Wollen – und er ist damit nie gescheitert.) Bussotti und sein „Kreis“ demonstrieren in diesem Album beispielhaft eine künstlerische Konzeption die sich dem übermenschlichen Unterfangen verschrieben hat, Dinge aufzuzeigen, die anders erscheinen als sie eigentlich sind. Und genau dies zwingt immer dazu, etwas zu begehren (was auch immer es sei) und es [gleichzeitig] abzulehnen - von Anfang an … egal von welcher Form und Substanz es ist. Wenn man darüber nachdenkt, kann dies das Herz der Kunst und ihrer Funktion sein.
Die Aufnahmen wurden mit einer sehr engen Mikrofonierung ausgeführt; diese gibt den Ton der Gitarre in all seiner Dynamik zurück und ermöglicht volle die Entfaltung der Obertöne. Alle Details sind präzise und reich im Material und die Präsenz der Stimme stört, wenn sie erscheint, nicht die Ausgeglichenheit des Gesamtklanges.
Andrea Bedetti
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AA.VV. – Ultima Rara-The Bussotti Circle Contemporary Music for Guitar and Voice
Hans-Jürgen Gerung (chitarra e voce)
CD Gerung-Arts&Music
Giudizio artistico 5/5
Giudizio tecnico 4/5
[1] Hermeneutik = Auslegungslehre von Kunst(Musik)werken und/oder Texten
[2] Emanation = das Hervorgehen aller Dinge aus der unveränderlichen göttlichen Einheit (vgl. Neuplatoniker und Gnostiker)
[3] Tautologie = eine immer wahre Aussage, deren Wahrheitsgehalt nicht abhängt von der Richtigkeit ihrer einzelnen Bestandteile
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