Bach & Luther // Musik für liuto forte

Luther, Bach, die Laute und die Gleichzeitigkeit

Professor Andrea Bedetti

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Es wurde zu Recht festgestellt, dass Johann Sebastian Bachs Musik eine immense klangtheologische Konstruktion darstellt, und dies betrifft nicht nur den geistlichen, sondern auch den weltlichen Teil seines Œuvres. Ein Gesamtwerk, konzipiert, von der ersten bis zur letzten Note unter der Ägide einer übergeordneten Macht, eines Gottes, zu dem das höchste Genie Eisenachs [Bach] immer aufschaute und ihm unendliche Dankbarkeit dafür zeigte, dass es mit der Kunst des Klangs ausdrücken durfte, was es in seinem Herzen und in seinem Verstand fühlte. Nicht umsonst fügte der Kantor am Ende jeder Partitur den lateinischen Ausdruck Soli Deo Gloria oder "allein durch Gottes Herrlichkeit" hinzu, als wollte er sagen, dass alles, was er, Bach, schuf, nur ein einfaches Instrument war, mit dem er das Lied sang über die Allmacht des Herrn. Mit äußerster Demut gibt er [damit] zu bedenken, dass seine Kompositionen [eigentlich] eher aus esercizi, den "Übungen" also bestehen, (um sie nicht ausschließlich auf didaktische Art und Weise zu betrachten), denn aus den Mitteln, mit denen man versucht, die Idee und das Wesen des Höchsten auf relative Weise neu zu erschaffen.

Will man das Ausmaß und die Tiefe der „Klang-Theologie“ Bachs verstehen, ist die Begegnung mit  der Figur des Martin Luther, auf den der Kantor immer Bezug genommen hat, notwendig. Martin Luther, der Reformator der Christenheit, der zum sogenannten „evangelischen Christentum“ den Anstoß gab. Entsprechend der von der römischen Kirche lancierten Geschichte begann die Reformation offiziell am 31. 1517 Oktober mit der Veröffentlichung der weltberühmten fünfundneunzig Thesen gegen die Macht des Ablasses an der Tür der Wittenberger Schlosskirche. Historisch ist es viel wahrscheinlicher, dass dieses Dokument noch am selben Tag an viele Bischöfe versandt und erst zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht wurde, um auf den Schweigevorhang der kirchlichen Autoritäten zu reagieren. Als guter Augustiner hatte Luther von Augustinus von Hippo das qui cantat, bis orat gelernt. Dies bedeutet "wer singt, betet zweimal" und verweist auf die Kraft von Musik und Gesang im geistlichen Gemeinschaftsleben. Ein Glaubensbekenntnis, dem sich Bach mit aller Kraft widmete und das idealerweise fortsetzte, was Martin Luther vor mehr als einem Jahrhundert begonnen hatte.

Daher darf beim Hören der Meisterwerke des gewaltigen Bach-Baues nicht vergessen werden, dass die Musik des Kantors als ideales Instrument zur Verbreitung der Größe Gottes aufgefasst wird, und dass die Musik selbst ein gewaltiger Kitt ist um ein Individuum in der Gemeinde zu verdichten, zu der es gehört, auch dank des Gesangs. Dieser, von der Lehre des Augustinus ausgehende  Gesang ist es, der sich bewundernswert in einen geistlichen Akt verwandelt, und von Luther in seinen Schriften und in seiner Reformation verewigt wird.

2017 war daher das Jahr, in dem der Beginn der protestantischen Reformation gefeiert wurde - fünf Jahrhunderte nach der Geburt dieser Bewegung, die keinen ausschließlich spirituellen und religiösen, sondern vor allem existenziellen und anthropologischen Wert hat. Und aus diesen Annahmen heraus hat der deutsche Komponist und Gitarrist Hans-Jürgen Gerung für sein eigenes Plattenlabel, die Gerung-Arts & Music, eine CD aufgenommen mit dem evokativen Titel Bach & Luther - Musik und Lyrik - Reformation 2017.

Neben [weltlichen] Bachwerken, darunter das Präludium BWV 999 und der Loure, (nach dem alten normannischen Dudelsack) BWV 1006a-2  stehen, der von Luther selbst verfasste Coral, Christ Lag in Todesbanden BWV 4/8, sowie Arbeiten andere Autoren. Zu nennen ist der u.a. Osterhymnus Victimae pascali laudes des Wipo von Burgund, der im elften Jahrhundert lebte, und der Pfingsthymnus Veni Creator Spiritus (ebenfalls von Martin Luther). Der deutsche Musiker interpretiert die Werke auf einer neuartigen Laute – dem sog. liuto forte (ein Saiteninstrument, das Ende des letzten Jahrtausends von dem Lautenisten André Burguete, dem Lautenbauer Prof. Günter Mark und dem Akustiker Benno Streu entwickelt wurde). [Daneben arbeitet Gerung mit einer Renaissance-Laute von Dieter Hense und einer 10-saitigen-Gitarre von Andreas Dill.]

Die Wahl von Hans-Jürgen Gerung, mit diesen Saiteninstrumenten nicht nur Lautenstücke, sondern auch große Choräle in der Reduktion aufzuführen (der deutsche Begriff ‚Einrichtung‘ beschreibt diesen Prozedere besser), ist [keinesfalls] willkürlich, sondern bezieht sich historisch auf den Willen Kantors selbst – hat dieser doch ebenfalls Passagen mit Hilfe eines [Lautenclavicembalos] einer Laute oder eines Spinetts vorbereitet und geschrieben. Und hierin liegt auch die Idee und der Wille, [und es ist auch der lutherischen Tradition eminent] einige Absätze aus einer der wichtigsten theologischen Schriften Martin Luthers, nämlich des Briefes Von der Freiheit eines Christenmenschen, (“La libertà del cristiano”) alternierend mit den [erwähnten] Musiken darzubieten. Luthers Text entstand 1520 als Antwort auf die  von Leo X. verfasste Bulle Exsurge Domine (erhebe dich, Herr), mit der der Papst drohte, [Luther], den ehemaligen Augustiner, zu exkommunizieren.

Gerade dieser Wechsel der doppelten Ausdrucksweise, Klang / Stimme, ermöglicht ein besseres Verständnis dessen, was zu Beginn gesagt wurde, nämlich wie die Deklamation des Liedes (und in diesem Fall der Musik) den selben Wert hat, wie das Gebet; hier dargestellt durch die Worte, mit denen Martin Luther [Gott] als "Mann Christi" anruft, seinen Glauben vollständig und frei zu manifestieren. Und es ist so, als ob Gerung uns verständlich machen würde, dass das Wort zu einem musikalischen Klang wurde (Luthers Gebrauch des Deutschen ist gleichbedeutend mit Goethes poetischem und Nietzsches philosophischem) – als ob das Timbre von Laute und Gitarre zu einer Art Verb [verschmelze], das in dem von Johannes dem Evangelisten gegebenen Sinne verstanden wird, d.h. zu einer [neuen] "starken Sprache", die die eigentliche Emanation des Göttlichen ist.

Und da gerade von "[Ton]-Sprache" die Rede ist: Hans-Jürgen Gerung hat auf einer weiteren CD, (ebenfalls für seine Plattenfirma produziert), sein Instrument par excellence, die Laute, eingesetzt, um sich mit einer Art von Tonsprache zu befassen, die, von tonalen Modalitäten ausgehend  zu exquisit zeitgenössischen Ausdrucksformen gereicht (nicht umsonst trägt die betreffende Platte den Titel Music for liuto forte - zeitgenössische Musik für moderne Laute). In dieser Aufnahme stellt der deutsche Komponist zwei verschiedene "Möglichkeiten" vor, diesem Instrument möglichst viele stilistische Ansätze abzugewinnen. Im ersten Teil mit dem Titel "Suite im alten Stil", liefert Gerung eine Komposition in der melodischen und harmonischen Tradition des 18. Jahrhunderts. Aufgeteilt in kanonische Abschnitte und barocke Tanzsätze (Preludio-Allemanda-Corrente-Sarabanda-Minuetto I & II-Giga) findet der oben beschriebene 10-saitigen liuto forte ein Spielfeld in dem er eine gänzlich andere Tonsprache anlegt wie im folgenden, zweiten Teil der Komposition. In den  Sechs Modi, oder "Sechs Wege", nimmt Gerung [zwar] die modale Sprache auf, die dem Aufkommen [seiner] Tonsprache vorausgeht (und zur Renaissance zurückreicht) und verbindet sie [mit Materialien und Techniken], die ausschließlich von der post-Webernianischen Sprache abgeleitet sind. Diese Kombination schafft eine kreative Dimension, die dazu führt, die Laute in jeder Komponente [neu] zu erleben. Die Obertöne des Instrumenten-Corpus in Verbindung mit der Perkussion des Griffbrettes erinnern teilweise an die von Helmut Lachenmann so geliebten Klang/Geräusch-Erforschungen [musique concrète instrumental]

Das Ergebnis ist eine bewundernswerte und faszinierende Zeitreise, durch die es Hans-Jürgen Gerung gelingt, als gemeinsamen Nenner zwischen Vorher und Nachher eine Art "Klangverb" hervorzuheben, das uns verständlich macht, wie die Kraft der Musik ist.  Gerung stellt die Musik an sich - und nicht in seiner Sprache,  als ein unausweichliches Element dar, mit dem der Mensch, ob alt oder neu, unbedingt rechnen muss, um sich selbst besser zu kennen. Musik ist eine Immanenz, die transzendent wird, scheint der deutsche Komponist und Interpret zu sagen, so wie es zuerst Luther und dann Bach durch ihre eigene Lehre und ihre eigene kreative Kunst gelehrt haben. Aus diesem Grund können und müssen diese beiden CDs gehört werden wie die Recherche nach einem Ausdruck, nach einer Vision. Gerung glaubt fest und ist zu Recht überzeugt, dass unsere Modernität und unsere Zeit nicht nur durch das bestimmt wird was uns direkt betrifft, [sondern auch das was einst war] als eine Art ideale Verfolgung angehört. Die Sphäre der Klangkunst muss aus der Antike, aus ihren Regeln, aus ihren "Wegen", aus ihren Begriffen schöpfen.

Die beiden Tonaufnahmen von Hans-Jürgen Gerung und Udo Keinert zeigen eine sehr gute und natürliche Dynamik und Mikrodynamik, die es erlauben, den Klang der verschiedenen Instrumente in einem echten Klangraum zu rekonstruieren. Auch die Tonbalance und das Detail sind nicht weniger gut.

 

Andrea Bedetti

 

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AA.VV.

Bach & Luther – Music and Lyrics – Reformation 2017

Hans-Jürgen Gerung (chitarra & liuto)

CD Gerung-Arts&Music EDG017aL

Giudizio artistico 4/5

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Hans-Jürgen Gerung –

Music for liuto forte – contemporary music for modern lute

Hans-Jürgen Gerung (liuto forte)

CD Gerung-Arts&Music EDG003L

Giudizio artistico 4/5

Giudizio tecnico 4/5

 

 

 

 

2024

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Bitte informieren Sie sich hier über unsere Kompositionen, über unser Audiolabel Gerung-Arts&Music und über unsere bildnerischen Arbeiten aus Malerei und Grafik.

The new general catalogue from edition-gerung is online.

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Collaboration in the field of music-graphics-literature & ballet with:

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Collaboration with the religious scholar Dr Melanie Barbato - thematic focus: non-violence in various traditions.

Reviews

Missa Brevis - Lockdown-Version für Saiteninstrumente. Werkbesprechung durch Prof. Andrea Bedetti auf www.musicvoice.it

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